13.12.16 /// Lilien INSIDE – Essay /// Ramon Berndroth bei Darmstadt 98: Zurück zu Wir

SC Freiburg vs Darmstadt 98 - 10.12.2016

 

Ramon Berndroth hat sein erstes Spiel als Cheftrainer des SV Darmstadt 98 verloren. Doch der 64-Jährige hat dem Verein in den wenigen Tagen seiner Amtszeit etwas verloren Geglaubtes zurückgegeben. Nämlich seine Identität.

 

Wenn einem Partner in einer Beziehung etwas fehlt, gibt es zwei Möglichkeiten: Er beendet die Beziehung oder er verdrängt die Sehnsucht, nach jenem Verhalten oder jenem Gefühl, das er so sehr vermisst.

Die Beziehung zwischen Fußballfans und ihrem Verein ist jedoch komplizierter: Das Verhältnis trotz emotionaler Enttäuschungen zu beenden, kommt für die meisten natürlich nicht infrage. Statt sich von seinem Herzensclub zu trennen, wird versucht, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen und das Beste draus zu machen.

Auch den Lilienfans blieb im Sommer nach dem Wechsel von Dirk Schuster und dem Kommen von Norbert Meier nichts anderes übrig, als es zu versuchen.

Es zu versuchen, sich an den neuen Chef auf der Trainerbank zu gewöhnen. Es zu versuchen, ihn zu verstehen. Es zu versuchen, einen Zugang zu ihm zu finden. Fußballfans wollen mögen, sie wollen lieben.

Die Darmstädter Tugenden kamen abhanden

Jeder Trainer hätte den immensen Schatten Schusters und seines unfassbaren Erfolgs gespürt. Doch Norbert Meier legte von Anfang wenig Wert darauf, die Fans und auch die Mannschaft auf emotionale Art und Weise mitzunehmen. Dazu, das stellte sich zum Beispiel auf seinen Pressekonferenzen heraus, war er nicht der Mensch und er hätte sich verstellen müssen. Vielmehr versuchte Meier, sich auf das Fachliche zu konzentrieren – und damit zu überzeugen.

Einen etwas mutigeren Spielstil wollte er seiner Mannschaft beibringen. Weniger lange Bälle nach vorne, sondern mehr spielerische Lösungen sollten es sein.

Gute Ansätze davon waren in jedem Spiel zu sehen, allerdings blieben dabei die zu Darmstädter Urtugenden gewordenen Eigenschaften mehr und mehr auf der Strecke: Das Kämpfen, der unbedingte Teamgeist, das Füreinander da sein – also jene Dinge, die Dirk Schuster seit seiner Ankunft vorgelebt hatte – und die unter Norbert Meier immer mehr verschwanden.

Mit der DFB-Pokal-Niederlage im Herbst gegen Astoria Walldorf (0:1) beschleunigte sich diese Entwicklung um ein Vielfaches. „Dieses Spiel wäre unter Schuster niemals verloren gegangen“, hieß es im Umfeld. „Der hätte solch ein Auftreten nie akzeptiert.“ In der Tat, die Mannschaft wurde dort mit ihren eigenen Waffen, ihren eigenen vermeintlichen Tugenden geschlagen. Der Viertligist wollte den Sieg mehr, investierte mehr für ihn.

Danach holten die Lilien in der Liga keinen Punkt mehr. Und mit dem ausbleibenden Erfolg, wurde auch die Beziehung des Vereins, der Mannschaft und der Fans zum Trainer auf immer härtere Proben gestellt.

Meier hatte keine eingespielte Stammelf gefunden, Leistungsträger der vergangenen Saison wie zuerst Peter Niemeyer, dann auch Jerôme Gondorf wurden vom Trainer kleingehalten. Dauernd gab es Unruhe wegen offensichtlichen atmosphärischen Störungen, die öffentlich natürlich niemand zugeben wollte.

„Spaß“, „Tugenden“, „Menschlichkeit“

Nach der Niederlage am zweiten Advent zuhause gegen den HSV (0:2) entschied sich die Vereinsführung um Rüdiger Fritsch zum Handeln. Norbert Meier wurde freigestellt, Ramon Berndroth, Leiter des Nachwuchsleistungszentrums, übernahm für die drei verbleibenden Spiele bis zur Winterpause.

Schon in den ersten Interviews deutete der in der Bundesliga als Chefcoach unerfahrene Berndroth an, dass er ein emotionaler, volksnaher Typ ist. Für viele ein gelungener Einstand.

Auch aus dem Spielerkreis waren nach den ersten Trainings absolut positive Rückmeldungen mit Begriffen wie „Spaß“, „Tugenden“ und „Menschlichkeit“ zu hören. Was das alles in einem Bundesligaspiel wert ist, konnte jedoch nur der Auftritt in Freiburg zeigen.

Spätestens dort, auf dieser großen Bühne, schaffte es Ramon Berndroth, die Fans voll auf seine Seite zu ziehen. Schon beim Warmmachen demonstrierte sein Team einen ganz anderen Zusammenhalt, die Körpersprache war schon bei diesen Übungen eine andere, eine positivere. Dann die Aufstellung: Sulu und Niemeyer in der Innenverteidigung, Gondorf wieder zurück auf dem Platz – zusammen mit Vrancic auf der Sechs. Mutig. Der Auftritt auf dem Rasen tat dann sein Übriges: Das war Darmstadt 98! Kampf, Teamgeist, Wille – die Fans erkannten ihre Mannschaft wieder.

„Wenn Ihr so spielt, folgen wir Euch überall hin!“

Freiburgs Elfmeter zum 1:0 machte die gute Leistung mit vielen Lilien-Chancen zwar zunichte. Die Enttäuschung über diese Niederlage und den Sturz auf Platz 18 ist aber schon Minuten nach dem Abpfiff nur noch halb so groß: Als die Mannschaft an den Gästeblock kommt, brandet großer Applaus auf, das Team wird aufgemuntert und bestärkt. Kurz darauf tritt Ramon Berndroth in die erste Reihe, zeigt allen Fans die Daumen nach oben und ruft mit einem so ansteckenden Enthusiasmus immer wieder „Ihr wart alle top“, sodass seine Frisur danach völlig zerzaust ist.

Ihm ist vermutlich nicht bewusst, was diese Geste in den meisten Fans auslöst:

Nicht nur, dass er, respektive seine Mannschaft, die so lange vermissten Tugenden auf den Platz gebracht hat – er und sein Team zeigen sie auch wieder abseits des Platzes: Teamgeist und Menschlichkeit im Umgang miteinander. Das war Darmstadt 98 unter Dirk Schuster – und ist es jetzt innerhalb so kurzer Zeit unter Ramon Berndroth wieder geworden. Trotz seiner „Verräter“-Aussage (wohl) bezüglich Alexander Milosevic, mit der er sicherlich eine Grenze überschritten hatte. Das Missverständnis wurde schnell aus der Welt geschafft, doch ist dieser Vorfall einfach ein Zeichen von Berndroths großer Emotionalität, seinem Streben nach absolutem Teamgeist, mit dem er viele Anhänger für sich gewonnen hat.

Die verdrängte Sehnsucht nach dieser Emotion weiß Berndroth mit seiner natürlichen, sympathischen und nahbaren Art zu befriedigen. Sowohl bei Präsidium, bei der Mannschaft als auch bei den Fans. „Wenn Ihr so spielt, folgen wir Euch überall hin“, hieß es direkt nach dem Freiburg-Spiel im Umfeld. Besser kann man die Genugtuung über die dank Ramon Berndroth wiedergefundene Darmstädter Identität nicht beschreiben.

 

Foto: Lilien INSIDE

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